Wie werden wir in Zukunft wohnen?

Die in Wien lebende Trend- und Zukunftsforscherin, Journalistin, Autorin, Beraterin und Rednerin sagt: „Ich bin weder optimistisch noch pessimistisch, sondern possibilistisch. Wir müssen offen sein für neue Ideen, Sachen ausprobieren.“ Oona Horx Strathern hat Begriffe geprägt wie „The Conscious Kitchen“ und „Spath-room“. Ihre Inspirationen holt sie sich aus aller Welt.
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Wohnen ist ein Grundbedürfnis wie Kleidung und Nahrung. Hat sich dieses Bedürfnis seit der Corona-Pandemie geändert?
Ja. Wir mussten uns anpassen an beispielsweise Homeoffice, was zu großen Veränderungen führte. Der Fokus auf Wohnen hat sich verstärkt. Wir legen mehr Aufmerksamkeit auf viele Bereiche unserer Wohnung. Angefangen von Materialien bis hin zur generellen Umgestaltung.

In welchen Bereichen der Wohnung war oder ist das besonders zu spüren?
Viele Menschen haben in ihre Küchen investiert. Man war mehr zu Hause, konzentrierte sich darauf, was man isst, wie man es vorbereitet, dass man weniger wegwirft. Die Küche war Treffpunkt für die Familie. Die Küche wurde zum Herz und Motor der Wohnung. Ich habe diesen Trend „The Conscious Kitchen“ genannt.

Eine andere Worterfindung von Ihnen ist „Spa-throom“. Was versteht man darunter?
Dieser weitere Trendname setzt sich zusammen aus „Spa“ und „Bathroom“. Denn auch das Badezimmer bekam eine neue Bedeutung. Hier fand plötzlich statt, was vor der Pandemie draußen passiert war. Maniküren und Massagen etwa. Die Badezimmer wurden wohnlicher. Auch, weil sie häufig die einzigen Orte waren, an die man sich zurückziehen konnte, wo man Privatsphäre hatte.

Das Badezimmer als Spa und Rückzugsort © Getty Images@unsplash

Worauf richtete sich die Aufmerksamkeit im Speziellen?
Das Bewusstsein hinsichtlich Materialien hat sich geändert. Man fragte sich plötzlich: Woraus ist mein Sofa? Wie ist die Luftqualität? Wie die Wasserqualität? Zudem änderten sich die Bedürfnisse in puncto Beleuchtung, denn man arbeitete plötzlich tagsüber zu Hause. Das wiederum erhöhte den Wunsch nach einem Ausgleich, einem Balkon, einer Terrasse. Viele Menschen zog es daraufhin raus aus der Stadt und aufs Land.

Die Städte haben sich also verändert?
Krisen erzeugen Änderungen. Gute wie nicht so gute. So kam zum Beispiel das hybride Arbeiten in Mode – teils auf dem Land, teils in der Stadt. Auch der Wunsch nach mehr Fahrradwegen kam auf. Mailand etwa reagierte da sofort. Paris setzte einen anderen Fokus: die 15-Minuten-Stadt, also alle Wege des Alltags sollen innerhalb von maximal 15 Minuten erreichbar sein. Die Nachbarschaft ist wichtiger geworden, die Gemeinschaft. Die Menschen wurden einsam. Wir haben gemerkt, dass wir mehr öffentlichen Raum brauchen.

An welchen Orten entstand mehr öffentlicher Raum?
In Wien gibt es zum Beispiel die Grätzloasen, wo man sich in einer Art Minigarten vor der Haustür zusammensetzen kann. In Schweden wurde das Konzept der „One-Minute-City“ ins Leben gerufen: kleine Module, die auf Parkplätze gestellt werden können. Mit Bäumen, Sitzplätzen, Ladestationen für E-Bikes – Dingen, die Menschen aus ihren Wohnungen herauslocken und wo man mit anderen Menschen in Kontakt kommen kann. Das ist ein Gewinn für alle. In Barcelona und Kopenhagen erlebt man das auch sehr gut.

Wohnen der Zukunft: das minimalistische Tiny House © Ossip

Beeinflussen der Ukraine-Krieg, Inflation und Klimawandel den Bereich Wohnen?
Der Wunsch nach Unabhängigkeit nahm zu. Viele Menschen wollen autark leben, die Energie etwa selbst erzeugen in Form von Photovoltaik-Anlagen. Man hat gemerkt, dass es auch anders geht. Und dass man dabei mancherorts auch subventioniert werden kann.

Man könnte auch Nahrungsmittel anbauen!
(lacht) Das machen wir auch, aber mit dem bisschen, was uns Schnecken und Ameisen übriglassen, würden wir verhungern! Aber im Ernst: Es geht hier um das Mindset, das Bewusstsein, das Gefühl. Hauptsache, wir erzeugen ein wenig Energie und haben ein wenig Gemüse. Interessanterweise merken viele dabei auch, dass sie gar nicht unbedingt Fleisch brauchen und ernähren sich zunehmend vegetarisch. Oder fragen sich – um einen anderen Bereich anzusprechen, ob sie wirklich ein Ledersofa benötigen oder ob es auch ein Stoffsofa sein könnte.

Wohnen hängt auch mit Bauen zusammen. Welche Tendenzen beobachten Sie dabei?
Cradle to cradle gehört zu einem der langfristigen Ziele. Das bedeutet, Baumaterialien können wiederverwendet werden bis zur kleinsten Schraube. Gebäude bekommen einen Materialpass, verlieren nicht an Wert, wenn man sie in ferner Zukunft wieder auseinandernehmen muss. Es gibt erste Ansätze und Materialien wie CO2-freien Stahl oder Beton. Wir haben genügend Ressourcen. Wir müssen sie nur besser benutzen.

© Oona Horx Strathern

Unsere Gesellschaft ist überaltert. Wirkt sich das auf Wohnkonzepte aus?
Einsamkeit ist ein großes Thema. Vor allem für Frauen, die länger leben als Männer. Es gibt wunderschöne Beispiele, wo sich Menschen zum gemeinsamen Leben zusammengetan haben durch ein sogenanntes Co-Living, der Weiterentwicklung der Großfamilie aus früheren Zeiten. In der „Older Women‘s Community“ in London leben 50- bis 92-j.hrige Frauen in einer supernetten Community und unterstützen sich gegenseitig. Im Wohnprojekt „SallBö“ im schwedischen Helsinborg wiederum wohnen ausschließlich unter 25-Jährige und über 70-Jährige in einem Haus. Alle sind einsam und verpflichten sich, mindestens zwei Stunden pro Woche mit ihren Nachbarn zu verbringen.

Die Tendenz geht weg vom Single-Leben zum Leben in einer Gemeinschaft?
Wir beobachten hier einen Trend und einen Gegentrend. Einerseits haben wir eine sehr individualistische Gesellschaft, andererseits das Bedürfnis nach Gemeinschaft. Daraus entstehen individualistische Gemeinschaften. Klingt wie ein Paradox, ist aber eine interessante Synthese. Es geht dabei nicht um die alte WG. Jeder wünscht sich einen Rückzugsort, ein eigenes Bad etwa.

Super Idee, aber realisierbar?
Es erfordert die richtige Einstellung, die jüngeren Leuten eher in die Wiege gelegt wurde – das Teilen, die Sharing-Community. Die junge, mobile, digitale, individualistische Gesellschaft tickt in Sachen Wohnen sicher anders als ältere Personen.

Sind gemeinschaftliche Wohnprojekte nicht sehr teuer für alle Beteiligten?
Man muss das komplex sehen. Einsamkeit macht unbeweglich und krank. Menschen gehen mehr zum Arzt, die Kosten für die Krankenkassen steigen. Zudem sind Wohnungen günstiger, die nicht alles enthalten wie etwa Gästezimmer, Bibliothek, Spa. Gutes Beispiel sind die „vertikalen Dörfer“ in Wien. Hier wohnen Menschen, die zwar kleinere Wohnungen haben, aber diverse Einrichtungen gemeinschaftlich nutzen können.

© Oona Horx Strathern

Wer setzt derartige Wohnprojekte um und welche Rolle spielen Sie?
Entwickler und Baufirmen kommen auf mich zu, fragen nach Trends. Ich spreche auf Architekturkonferenzen, mit Stadtplanern, Stadtentwicklern, bei Firmen, die spezielle Häuser konzipieren – für ältere Menschen zum Beispiel. Ich bringe frische, neue Ideen aus aller Welt mit. Ich gehe selbst auf Messen, lausche Konferenzen, informiere mich in der internationalen Presse, picke interessante Ideen heraus, verfolge Statistiken und entwickle konkrete, bildhafte Begriffe zur besseren Vorstellung, die zum Mitmachen motivieren.

Wie ist die Bereitschaft, etwas Anderes oder Neues zu probieren?
Man merkt schon, dass Skandinavien ein bisschen weiter ist. Hier werden Dinge ausprobiert. Hier herrscht eine andere Einstellung. Nehmen wir Fahrradwege. Deutschland meint, schlechtes Wetter sei ein Hindernis. In Kopenhagen steht man da drüber.

Sie veröffentlichen jährlich einen Homereport. Verraten Sie uns ein paar Wohntrends!
Radical Materials: neue ungewöhnliche Materialien in der Interior-Design-Branche, getrieben von Ressourcenknappheit, Klimakrise und Nachhaltigkeit. Re-loved Revolution: Möbel erhalten ein neues Leben durch Upcycling über Uppainting bis hin zur Kurz- oder Langzeitmiete. Modulare Möbel. Generell sind ökologische Aspekte spürbar und der Wunsch nach lokalen Materialien und Produzenten, nach Alternativen zu etwa dem Teak-Schränkchen aus Fernost, das lange zu uns reisen muss.

Wie möchten Sie in 20 Jahren leben?
Ich würde gern am Meer leben. Vielleicht in Irland. Die Menschen sind so freundlich und Community gehört zur Tradition. Ich kann mir alles vorstellen, auch ein Co-Living, bin aber auf nichts Spezielles fixiert. Mal sehen, was mir die Zukunft bringt.

Die Kindness-Revolution wird Einfluss haben auf all unsere Lebensbereiche: Wie wir wohnen, wie wir unseren Alltag leben, was wir kaufen und wie und vor allem wo wir arbeiten.
ISBN-13: 978-3967391503
Gabal-Verlag, € 34,90

Chiara Padovan

MINT-Redaktion