ESG ist nicht mehr freiwillig 

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ESG ist ein großes Thema in der EU. MINT Magazine sprach mit Rechtsanwältin Corinna Czermak über die Herausforderungen und Chancen dieses Themas und die neuen rechtlichen Vorgaben und warum sie gerade in der Immobilien- und Baubranche eine bedeutende Rolle spielen werden. 

Corinna Czermak ist Rechtsanwältin in der Anwaltsboutique GrothmannGeiser in München. Als Expertin im Immobilienwirtschaftsrecht und projektbegleitender Rechtsberatung sowie Compliance berät sie insbesondere auch zu ESG-Themen, wie z.B. Umsetzung der ESG-Kriterien, Etablierung von Prozessen, Erstellung von Dokumentationen und Schulungen der Mitarbeiter. Ich halte ESG für essenziell. Nur so haben Banken und Unternehmen die Pflicht, aber auch die Chance, ihr umfassendes verantwortungsvolles Handeln nachvollziehbar zu gestalten und offenzulegen“, sagt sie. 

Frau Czermak, ESG ist in vieler Munde. Wofür steht das Kürzel? 

ESG ist die Abkürzung für Environmental, Social, Governance. Auf Deutsch: Umwelt, Soziales, verantwortungsvolle Unternehmensführung. Und in einem Satz formuliert: ESG umfasst Kriterien zur Evaluierung einer nachhaltigen Unternehmensführung.   

Können Sie das genauer erklären? 

Im Bereich „E“ geht es darum, den ökologischen Fußabdruck zu reduzieren, zum Beispiel in der Produktion, beim Ressourcenverbrauch im Betrieb, beim Recycling. Unter „S“ fallen die sozialen und ethischen Faktoren eines Unternehmens, etwa der Umgang mit Mitarbeitern, Umfeld und Menschen, die vom Unternehmen betroffen sind, sowie allgemeines soziales Engagement. „G“ beinhaltet alle Maßnahmen einer guten und verantwortungsvollen Unternehmensführung, Stichwort Compliance. Dabei kann es um Themen wie Korruption, Geldwäsche, Datenschutz oder kartellrechtliche Absprachen gehen.  

Woher kommt ESG und ist es was Neues? 

Das Konzept kommt ursprünglich aus der Finanzwirtschaft, die ESG selbstverpflichtend entwickelt hat. Nachhaltige Finanzwirtschaft wie nachhaltiges Wirtschaften im Allgemeinen steht inzwischen verstärkt im Fokus der Zivilgesellschaft. Richtig interessant ist das Thema, seit die EU im Rahmen des „Green Deals“* ESG zu einem zentralen politischen Anliegen gemacht hat. Neu ist hier vor allem, dass die Einhaltung der Kriterien nicht mehr freiwillig ist, sondern nun Schritt für Schritt mit Verordnungen und entsprechenden Offenlegungspflichten verpflichtend wird (z. B. EU-Offenlegungsverordnung und EU-Taxonomie-Verordnung) und die Einhaltung der Vorgaben kontrolliert wird.  

Die Finanzwirtschaft ist also eine Art Mutter der ganzen ESG-Sache?  

Über die Finanzbranche erreicht man große Teile der Realwirtschaft. Oder anders ausgedrückt: Wenn die Finanzbranche künftig offenlegen muss, ob und wie nachhaltig sie handelt, muss das jedes Unternehmen und jeden Investor interessieren. 

Unternehmen und Privatpersonen betrifft die ESG-Verordnung nicht? 

Doch, zum Teil unmittelbar, z.B. wenn ein Unternehmen von Berichtspflichten betroffen ist, zum Teil mittelbar, wenn Unternehmen einen Kredit benötigen oder sich in puncto Nachhaltigkeit ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit erklären müssen – Stichwort „Green Washing“, oder wenn Privatpersonen bei ihren Kauf- oder Anlageentscheidungen auf ökologische, soziale und moralische Aspekte achten.  

Welche Rolle spielt ESG in der Bau- und Immobilienbranche? 

Eine sehr große. Zunächst im Bereich „E“: 40 Prozent des gesamten Energieverbrauchs in der EU hat die Bau- und Immobilienbranche zu verantworten; 36 Prozent der Treibhausgasemission stammen von Gebäuden. Bau, Nutzung, Renovierung, Abriss – jeder Bereich ist relevant und hat Einflüsse auf das Klima und die Umwelt. Andererseits geht es um soziales Miteinander und Wohnen, Verkehrssituationen, Arbeitsplätze, Städteplanung, Arbeitsbedingungen am Bau, Lieferketten – also die „S“-Themen. Auch der Bereich „Governance“ betrifft die Immobilienwirtschaft. Die Bau- und Immobilienbranche umfasst 25 Prozent aller Unternehmen in Deutschland mit zehn Prozent aller Beschäftigten und hat damit eine Vorbildfunktion; fast jeder ist von der Immobilienbranche betroffen. 

Hat sich die Branche bisher nicht um derartige Themen gekümmert? 

Es war bisher nicht zwingend nötig. Außerdem ist ESG mit Aufwand und Kosten verbunden und in den konkreten Anforderungen oftmals noch unscharf. Ich sehe hier jedoch eine große Chance für Investoren und Unternehmen, die ein Projekt nachhaltig gestalten. Es wird sich langfristig lohnen, etwa beim Verkauf von Objekten; der Käufermarkt wird kritischer, Investoren und Nutzer legen zunehmend Wert auf Nachhaltigkeit.  

Sie haben ein Live-Format ins Leben gerufen, das ESG beleuchtet und greifbar macht. Erzählen Sie darüber! 

Bei unseren regelmäßigen Frühstücksveranstaltungen „ESG und Nachhaltigkeit in der Immobilienwirtschaft“ treffen sich verschiedene Akteure der Bau- und Immobilienbranche wie Projektentwickler, Architekten, Ingenieure mit oder ohne Recyclinghintergrund zum gegenseitigen Austausch. Schließlich stehen alle vor einem riesigen Berg an Themen – Umsetzung, Kosten, Personal, inhaltliche Unsicherheiten, rechtliche Vorgaben. Wer sich angesprochen fühlt, kann sich gerne auf unserer Website oder auf LinkedIn informieren bzw. anmelden. 

Würden Sie sagen, dass ESG boomt? 

Boomen finde ich das falsche Wort, denn es klingt nach einem vorübergehenden Hype. Dass ESG ein wichtiges Thema ist, steht für mich außer Frage. Und zwar langfristig. Klimawandel, soziale Gerechtigkeit, Verantwortung jedes Einzelnen und der Wirtschaft – das sind DIE Zukunftsthemen. Wir MÜSSEN uns damit beschäftigen, und zwar auf Dauer. ESG bietet dafür den Rahmen und die Chance, mit seinem Unternehmen und den Mitarbeitern die angesprochenen Themen strukturiert anzugehen und sich so für die Zukunft zu wappnen. 

 

* Green Deal: ein von der Europäischen Kommission unter Ursula von der Leyen am 11. Dezember 2019 vorgestelltes Konzept mit dem Ziel, bis 2050 in der Europäischen Union die Netto-Emissionen von Treibhausgasen auf null zu reduzieren und somit als erster Kontinent klimaneutral zu werden. 

 

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Alexander Aczél

Kreativ Direktor